Eine OECD-Studie untersuchte in den 90er Jahren ländervergleichend die generelle Lesefähigkeit. Ergebnis: etwa die Hälfte der Deutschen verfügt nur über eine eingeschränkte Lesekompetenz. Die Zahl der Analphabeten im Land der Dichter und
Denker wird übrigens auf satte 4 Millionen geschätzt. Außerdem sind die Lesegewohnheiten der Menschen – wenn sie denn lesen – heute von der dominanten Rezeption audiovisueller Medien bestimmt. Die Gewöhnung an rasche Schnittfolgen in Film und Funk kombiniert mit der durch die Fernbedienung geförderten Zapping- und durchs Internet erweiterten Klickkultur sind nicht spurlos am Leseverhalten vorübergegangen. Angesichts des medialen Überangebots und zunehmenden Anforderungen in Berufs- und Freizeitwelt tritt der Aspekt der Zeit in den Mittelpunkt einer immer mehr auch nach dem Kosten-Nutzen-Kalkül durchorganisierten Freizeit, die
selbst den Umgang mit den Mitmenschen nicht ausspart. Und da haben Bücher schlechte Karten. Die Aufmerksamkeitsbereitschaft oder gar Fähigkeit von
Konsumenten, die sich an den Wissensabruf auf Knopfdruck gewöhnt haben, sinkt rapide. Man liest hier und dort und schaut überall mal rein und ist eigentlich nirgends richtig anwesend. Konzentrierte geistige Präsenz über einen längeren Zeitraum ist aber nun mal die Grundvoraussetzung dafür, sich die Welt der Bücher erschließen zu können. Natürlich lässt sich ein Sachbuch diagonal lesen und praktischer Nutzen daraus ziehen. Bei fiktionaler Literatur funktioniert das jedoch prinzipiell nicht. Denn nur wer sich wirklich auf sie einlassen kann, par coeur sozusagen, hat die Chance,
Anschluss an das kollektive Gedächtnis der eigenen Gesellschaft und Sprache zu bekommen, das sich eben gerade nicht ausschließlich in Fakten oder
im neuesten Trend erschöpft.