Der Akt des Lesens

Das Lesen erfordert Aktivität. Der Leser ist dank und mit dem Autor Akteur im
Entstehungsprozess des literarischen Produkts. Er „malt“ die individuellen Bilder hinter den schwarz-weißen Lettern, die das Buch ihm bereitstellt. Er bildet sich in der intimen Sphäre des Lesens eine Illusion, seine Illusion, er erschafft sich seine Charakterköpfe, „malt“ die Kulissen, vor denen diese agieren – und erlebt sich so selbst als Schöpfer, als Creator – als kreativ und aktiv. Passiv ist er hingegen vor dem Fernseher, der ihm allein fremdproduzierte Bilder vorsetzt. Wer kennt sie nicht, die Enttäuschung angesichts der Verfilmung eines Buches, das man mit Freude gelesen hat? Banal und tot erscheinen einem die Leinwandhelden oft, die vermutlich diffuser, damit aber auch lebendiger vor dem geistigen Auge erschienen sind und so einen intensiveren Eindruck hinterlassen haben.

Lesefähigkeit als Schlüsselqualifikation

Lesefähigkeit als Schlüsselqualifikation und primäre Kulturtechnik ist im Kommunikationszeitalter unerlässlich. Deshalb stellt die Leseförderung eine sehr wichtige kulturpolitische, eigentlich aber gesellschaftspolitische Aufgabe dar, die leider nicht mehr allein den Eltern überlassen werden kann, wenn diese mehrheitlich nicht mehr in der Lage sind, ihren Kindern Anregung und Vorbild zu sein. Dass es funktionieren kann, zeigen Erfahrungen aus Finnland, wo ein intensives staatliches Förderprogramm der Kinderkultur erste Erfolge auf breiter Front verzeichnet.

Die Widerständigkeit des Buches

Die Erwartungshaltung der Leser ist eine andere geworden. Der schon sprichwörtliche Werbespruch „Genuss sofort“ trifft diese Mentalität sehr gut. Internetvideos oder Fernsehfilme bieten hier schnellste Abhilfe. Ein Buch dagegen muss über Stunden erschlossen werden und bedarf einer Ruhe, die viele gar nicht mehr aufbringen, die auch noch im Bad einen Viertfernseher und im Kühlschrank ein Display mit Internetzugang installiert haben. Wir Internetjunkies sind wahrnehmungs- und lebenspraktisch ganz anders getaktet. Wir passen uns an die visuellen und durch Rasanz gekennzeichneten Medien an. Schon der Erfinder des Computers, Konrad Zuse, warnte zu Recht: „Die Gefahr, daß der Computer so wird wie ein Mensch, ist nicht so groß wie die Gefahr, dass der Mensch so wird wie ein Computer.“ Auf diesem Hintergrund erscheint bei aller Begeisterung für die Möglichkeiten etwa des Internets die Entwicklung nicht nur als Befreiung und Erweiterung der Optionen, sondern paradoxerweise auch als Determination, als Einschränkung der Autonomie dort, wo die Erwartungshaltung an die Bürger steigt, ständig über alles informiert zu sein, auf alles just in time zu reagieren.

Leseverhalten

Neben dem verständlichen Wunsch nach Orientierung im Überangebot hat sich durch Medienkonkurrenz auch eine gewandelte Bedürfnisstruktur seitens der Leser entwickelt. Eine Studie über das veränderte Leseverhalten in Deutschland (Stiftung Lesen) beruhigt zwar, dass das Ende der Buchkultur, wie es der Kulturkritiker Marshall Mc Luhan in den 60er Jahren noch prognostiziert hat, wohl nicht so schnell eintreten werde (er sagte es bereits für 1988 voraus), es gibt jedoch qualitative Veränderungen, die aufhorchen lassen. Pauschal gesagt wird weniger (in Büchern) gelesen und vor allem anders. Fakt ist, dass in den letzten Jahren die Anzahl der Leser, die sich mindestens ein Buch im Jahr gekauft haben, um alarmierende 7 Millionen
geschrumpft ist. Das riesige Angebot wird zudem nur von etwa einem Drittel der Menschen wahrgenommen.

par coeur

Eine OECD-Studie untersuchte in den 90er Jahren ländervergleichend die generelle Lesefähigkeit. Ergebnis: etwa die Hälfte der Deutschen verfügt nur über eine eingeschränkte Lesekompetenz. Die Zahl der Analphabeten im Land der Dichter und
Denker wird übrigens auf satte 4 Millionen geschätzt. Außerdem sind die Lesegewohnheiten der Menschen – wenn sie denn lesen – heute von der dominanten Rezeption audiovisueller Medien bestimmt. Die Gewöhnung an rasche Schnittfolgen in Film und Funk kombiniert mit der durch die Fernbedienung geförderten Zapping- und durchs Internet erweiterten Klickkultur sind nicht spurlos am Leseverhalten vorübergegangen. Angesichts des medialen Überangebots und zunehmenden Anforderungen in Berufs- und Freizeitwelt tritt der Aspekt der Zeit in den Mittelpunkt einer immer mehr auch nach dem Kosten-Nutzen-Kalkül durchorganisierten Freizeit, die
selbst den Umgang mit den Mitmenschen nicht ausspart. Und da haben Bücher schlechte Karten. Die Aufmerksamkeitsbereitschaft oder gar Fähigkeit von
Konsumenten, die sich an den Wissensabruf auf Knopfdruck gewöhnt haben, sinkt rapide. Man liest hier und dort und schaut überall mal rein und ist eigentlich nirgends richtig anwesend. Konzentrierte geistige Präsenz über einen längeren Zeitraum ist aber nun mal die Grundvoraussetzung dafür, sich die Welt der Bücher erschließen zu können. Natürlich lässt sich ein Sachbuch diagonal lesen und praktischer Nutzen daraus ziehen. Bei fiktionaler Literatur funktioniert das jedoch prinzipiell nicht. Denn nur wer sich wirklich auf sie einlassen kann, par coeur sozusagen, hat die Chance,
Anschluss an das kollektive Gedächtnis der eigenen Gesellschaft und Sprache zu bekommen, das sich eben gerade nicht ausschließlich in Fakten oder
im neuesten Trend erschöpft.