Das Weltwissen der Kinder

Vor einigen Jahren gab es einen Sachbuchbestseller von Donata Elschenbroich, der den Nerv interessierter Eltern traf und gegen eine Verschulung der Kindheit Lernlust setzte, die sich an der natürlichen sinnlichen Aufgeschlossenheit von Kindern orientiert. In „Das Weltwissen der Siebenjährigen“ zeigt die Autorin, wie einfach es ist, die natürliche Begeisterungsfähigkeit und den Entdeckerdrang von Kindern fürs Lernen fruchtbar zu machen. Aus Befragungen von Eltern, Erziehern und Kindern selbst entwickelt sie eine Art Kanon dessen, was ein Kind verschiedener Altersstufen erlebt haben sollte. Sei es, einen Schneemann zu bauen, eine Flüsschen zu stauen oder bei einer anderen Familie zu übernachten. Es gehe darum, „im Kind die Kraft zu bestärken, sein eigener Lehrer zu sein“. Und nach diesem lustorientierten Prinzip lässt sich auch die Heranführung an Bücher und Literatur umsetzen.

Ausgehend von der Erfahrung, dass alle Kinder sich liebend gerne vorlesen lassen, wenn es nur jemand tut, sowie der anthropologischen Einschätzung, dass das Narrative eine Grundstruktur menschlicher Bewußtseinsorganisation ist – wie auch neuere Erkenntnisse der Hirnforschung belegen – müsste es eigentlich ein Leichtes sein, alle Kinder in der entscheidenden Phase zu begeistern.
Denn es ist vermutlich auch so, und das kann sicherlich jeder nachvollziehen, der selbst als Kind unter der Bettdecke heimlich gelesen hat, dass es eine zeitlich begrenzte Phase in der kindlichen Entwicklung gibt, in der die Welt der Buchstaben eine besondere Faszination ausübt. Wird dieses Zeitfenster nicht genutzt, dann ist das ein später offenbar kaum wieder gut zu machender Verlust von Entwicklungspotential an emotionaler und intellektueller Reife. Auch wenn der Vergleich ein wenig hinkt und es biologistisch anmuten mag, aber es erinnert ein wenig an die Prägung der Lorenzschen Gänse, die sich ja bekanntlich nur innerhalb einer bestimmten Zeitspanne auf alles als Mutterersatz prägen lassen und seien es die Gummistiefel des Forschers.

Das Defizit des Kommunikationszeitalters

Der Schriftsteller Botho Strauß hat einmal das zentrale Defizit des Kommunikationszeitalters in Erweiterung zu Sokrates treffend auf den Punkt
gebracht: „Ich weiß, daß ich nichts weiß, ich weiß nur, daß ich informiert bin.“
Die Tatsache, dass Information nicht gleich Erkenntnis und Weltwissen ist, scheint kaum noch geläufig zu sein. Durch die Beschleunigung der Informationsvermittlung kann Information geradezu zum Verhinderer von Erkenntnis werden, wenn letzte Zeitfreiräume mit neuesten Nachrichten – per SMS aufs Handy oder auf den Laptop gesendet – die Aufmerksamkeit okkupieren. Aber sie wird nicht zwangsläufig erduldet, denn für viele Menschen ist diese dauerhafte Berieselung mit Informationen ähnlich wie Hintergrundmusik mutmaßlich nur ein Vorwand, um sich nicht mit sich selbst
beschäftigen zu müssen und die Stille und die Leere zu ertragen, die entsteht, wenn man nicht angeschlossen ist an den Strom der elektronischen Medien. Und doch werden Bücher gelesen, denn viele Menschen spüren, dass ihnen etwas fehlt. Martin Walser sagt diesbezüglich: „Wenn der WELT, in der man lebte, nicht ernsthaft etwas FEHLTE, würde man nicht LESEN.“

Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich

„Am Morgen kein Joint, und der Tag ist dein Freund“, so heißt es auf S.
159 des neuen Buchs von Helge Timmerberg, „Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich“ (Malik, 2014). Da Timmerberg nach eigener Aussage eigentlich nur unter dem Einfluss magischen Pflanzenrauchs schreibt, stellt sich die Frage, ob wir uns nun Sorgen um seine schriftstellerische Schaffenskraft machen müssen. Die Antwort ist: auf keinen Fall, denn das Buch ist ein echter Timmerberg mit einem Reigen an flapsigen Scherzen, politisch unkorrekten Einwürfen, ehrlicher Selbstanalyse, schelmenhaften Geschichten und romantischen Erinnerungen. Er nimmt den Leser mit auf eine abenteuerliche Reise durch den Orient aber auch sein Leben, bei der er
knallharte Realität mit märchenhafter Übertreibung so geschickt verwebt, dass man nie so recht weiß, ob man nun in einem spannenden Reisebericht schmökert oder einen Märchenbuch. Allerdings hatte Timmerberg bei diesem Buchprojekt ein echtes, unverschuldetes Problem, wie die völlig unerwartete Pointe zeigt. Das ist tragisch, aber nicht zu ändern, wie der Leser verstehen wird. Deshalb bleibt sein jahrzehntelanger Traum von einem „wahren Märchen“, einem Hollywoodfilm über Elsa Sophia von Kamphoevener, seinem Vorbild fürs Geschichtenerzählen, ein Traum. Alles andere
wäre aber auch märchenhaft gewesen. Und wer mag das schon vom Leben behaupten.

Idiotisch

„Es ist idiotisch, sieben oder acht Monate an einem Roman zu schreiben, wenn man in jedem Buchladen für zwei Dollar einen kaufen kann.“ (Mark
Twain)

Mehr Autoren als Leser

„Manchmal beschleicht mich die Vermutung, dass es mehr Autoren als Leser gibt“, sagte der Verleger und räumte einen weiteren satten Stapel Manuskripte von links nach rechts. Eine Faustformel besagt, dass 1 von 400 bei Verlagen eingereichten Manuskripten überhaupt die Chance hat, veröffentlicht zu werden. Bei einigen Verlagen soll es sogar noch gravierendere Relationen geben. Ob das wohl stimmen kann? Rechnen wir doch einmal nach. Wenn man die rund 80.000 Neuerscheinungen pro Jahr mit 400 multipliziert, dann kommt man auf immerhin 32 Millionen Autoren (lassen wir die Vielschreiber, die doch tatsächlich mehrere Bücher pro Jahr schreiben und die, die noch  nicht oder nicht mehr schreiben können einmal außer Acht). Bei dem über die Jahre relativ konstanten runden Viertel an Nichtlesern und einer deutschen Bevölkerung von rund 80 Millionen kommen wir so auf ein Verhältnis von 60 Millionen Lesern zu 32 Millionen Autoren, also einem Verhältnis von ca. 1:2 zugunsten der Leser. Also, die Parität ist noch nicht erreicht, es ist noch Luft. Fangen Sie deshalb ruhig damit an, ein Buch zu schreiben, es wird Ihnen garantiert aus der Hand gerissen.

Fidel unfidel

„In 80 Tagen um die Welt“ (Rowohlt, 2008) führt Helge Timmerberg nicht nur auf die Bestsellerliste Platz 11 (Spiegel-Sachbuch), sondern um die ganze Welt und noch mehr zu sich selbst. Das alte Verdikt, dass man auf Reisen immer auf sich selbst zurückgeworfen sei, wird dem Autor hier besonders bewusst. Doch indem er sich trotz Selbstzweifel und mangelnder Entscheidungsfreude akzeptiert und dem jeweiligen Ort anvertraut, tauchen neue Einsichten am Horizont auf und die Augen öffnen sich wieder für die Lebensfreude der unterschiedlichen Völker. Allein die Fidel-Castro-Regime-Kritik, die weniger politisch als musisch-vitalistisch ansetzt, ist einzigartig.